Spirituelles – Ostergedanken von Abt Reinhold Dessl

Dankesansprache von Abt Reinhold

Abt Reinhold Dessl

Der Stein ist ins Rollen gekommen

Wir wissen, was es heißt, wenn „ein Stein ins Rollen kommt“. Ostern hat gleichsam den Stein des Lebens gegen den Tod ins Rollen gebracht. Die Liebe ist stärker als der Tod. Gott hat seinen Sohn nicht im Grab gelassen, sondern auferweckt. Der Tod ist dadurch so etwas wie eine Geburt zum neuen Leben geworden, das wir auch für uns erhoffen dürfen.

Es gibt dazu eine kleine Geschichte aus dem Judentum, wo man ja bekanntlich immer noch auf das Kommen des Messias wartet. Während der Judenverfolgungen unter dem Hitler-Regime lebte ein Mann eine Zeitlang in einem Grab eines jüdischen Friedhofes in Wilna. Während dieser Zeit schrieb er Gedichte. Und eines dieser Gedichte handelte von einer Geburt; denn in einem anderen Grab ganz in seiner Nähe gebar eine junge Frau einen Sohn. Der 80-jährige Totengräber stand ihr dabei zur Seite. Als das neugeborene Kind seinen ersten Schrei ausstieß, betete der alte Mann: „Großer Gott, hast du endlich den Messias zu uns gesandt?“ – Er glaubte, nur der Messias selbst könne in einem Grab geboren werden. Drei Tage später sah der Dichter, wie das Kind die Tränen seiner Mutter trank, weil sie ihm keine Milch geben konnte. Wahrscheinlich ist dieses Kind gestorben, und der alte Mann musste wieder eine Hoffnung mehr begraben. Und dennoch hatte er Recht: Nur der Messias kann aus dem Grab kommen; denn das Grab ist normalerweise die Stätte des Todes. Und nur die Macht Gottes kann aus dem Grab Leben erstehen lassen.

„Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“, sagt der Osterengel zu den Frauen am Grab. Seit Ostern sind auch die Grabsteine auf unseren Friedhöfen keine Schlusssteine mehr, sondern sie sind Hinweiszeichen und Hoffnungszeichen für ein neues Leben.

Ostern hat den Stein des Lebens gegen den Tod ist ins Rollen gebracht. Ostern hat auch den Stein des Vertrauens gegen die Angst ins Rollen gebracht. „Fürchtet euch nicht, ihr sucht Jesus den Gekreuzigten. Er ist auferstanden und lebt“, hören wir aus dem Mund des Osterengels. So wie aus dem Mund des Weihnachtsengels auf dem Feld von Bethlehem kommt auch aus dem Mund der Osterengel die Botschaft: „Fürchtet euch nicht!“

Angst und Furcht sind in unserer Zeit ein bestimmendes Thema. Vielfältige Ängste plagen uns im persönlichen Bereich. Angst, Furcht und unmenschliche Lebensbedingungen haben auch Unzählige in den letzten Monaten zur Flucht nach Europa veranlasst. Hier begegnen sie oft Menschen, die Angst und Furcht vor einer Überfremdung haben. Der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner hat ein neues Buch veröffentlicht mit dem Titel „Entängstigt euch!“ Er bringt darin aktuelle Befragungen von Menschen zum Flüchtlingsproblem und wirbt für christliche Solidarität.

Der Stein des Lebens gegen den Tod, der Stein des Vertrauens gegen die Angst. Und einen dritten Stein, den Ostern angestoßen hat, möchte ich nennen: den Stein der Gemeinschaft gegen die Vereinzelung. Es geht noch ziemlich chaotisch zu an diesem ersten Ostermorgen, und im Grunde wird sich auch nicht viel daran ändern. Der entscheidende Punkt ist aber dabei: Der Auferstandene beginnt schon am Ostermorgen wieder sein Jünger und Jüngerinnen zu sammeln. Denn der Glaube lebt von Begegnung und Gemeinschaft miteinander und mit dem Auferstandenen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gesegnetes Osterfest 2016.
Abt Reinhold Dessl

cb